Erzieher zwischen Traum und Albtraum
Bereits Qualifizierte, Erzieher in der Ausbildung oder Quereinsteiger werden heute (fast) von der Straße weggefangen und mit Kusshand in den Kindertagesstätten begrüßt – Mangel macht schließlich erfinderisch.
Aber gilt „Erzieher“ wirklich als Traumberuf, der Selbstverwirklichung, persönliche Erfüllung und berufliche Perspektiven nahezu perfekt vereint? Oder gleicht der Erzieherberuf eher einem Albtraum, der Erzieher zwischen allen Stühlen sitzen lässt?
Einerseits glauben wir doch, dass Erzieher – darunter viele Frauen und ein paar Männer – am Ziel ihrer beruflichen Wünsche sind. Sie betreuen unterschiedlichste Charaktere von Kindern, erleben eine Fülle von Glücksmomenten, tiefes Vertrauen, kindliche Begeisterung, herzliches Lachen und feste Umarmungen, haben einen abwechslungsreichen und lebendigen Tagesablauf, treffen Entscheidungen aus dem Bauch oder der Situation heraus und arbeiten an einem Ziel mit einem (meist) gleichgesinnten Team. Dafür sind Flexibilität, Neugierde, Selbstinitiative, Kreativität, Engagement, Lernfreude, aber auch Fitness, physische und psychische Stabilität sowie die berühmte Antenne für ganz bestimmte Situationen gefragt.
Andererseits steigen die beruflichen Herausforderungen, finanzielle Zwänge und die (äußeren) Erwartungen fast ins Unermessliche. Die Träger der Einrichtungen stehen selbst unter Zugzwang und pochen auf die Einhaltung des Bildungsplanes oder die bedarfsgerechte Qualifizierung der Erzieher. Eltern erwarten als „Gegenleistung“ für ihre Kindergartengebühren sowohl hoch gebildete und ausgeglichene Erzieher als auch wohlerzogene, allseitig gebildete Kinder möglichst ohne Sand und Dreck an den Hosen, also wahre Wunder.
Im Zuge der Inklusion sind zwischen Windeln wechseln, Essenausgabe und Tränentrocknen noch heterogene Kinder zu integrieren. Und die Grundschulen hoffen auf bereits lesende, rechnende oder Englisch sprechende Erstklässler.
Viele Ursachen und weitreichende Wirkungen
Die ohne Zweifel notwendigen Entwicklungen und Veränderungen in der frühkindlichen Pädagogik führen eigendynamisch zu einer völligen Aufgabenüberfrachtung des Arbeitsalltags von Erziehern. Neben dem eigentlichen Kernbereich, der Arbeit mit dem Kind, haben Erzieher noch geltende Qualitätsstandards wie das Führen von Lern- und pädagogischen Tagebüchern oder Entwicklungsgesprächen mit den Eltern zu erfüllen, Konzeptionen zu evaluieren, Teamberatungen und Elternabende zu organisieren, in der Erziehungsberatung tätig zu sein, die Eltern in Veranstaltungen der Kita einzubinden sowie an Fortbildungen und Fachtagungen, Supervision oder Coaching aktiv teilzunehmen.
Situationsverschärfend wirkt der geltende Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung, den wir inhaltlich nicht in Frage stellen. Dennoch können viele Träger von Kindertagesstätten die notwendigen Kapazitäten für die Aufnahme von Kindern wegen klammer Kassen nicht in ausreichendem Maße bereitstellen, vom notwendigen Personalschlüssel, eingeschränkten Räumlichkeiten und Geldern für die Ausstattung mal ganz abgesehen. Schon wenn es zu krankheitsbedingten Ausfällen von Erziehern kommt, tritt den Trägern der Angstschweiß auf die Stirn.
Bleibt die Feststellung, dass derzeit Anspruch und Wirklichkeit in der frühpädagogischen und frühkindlichen Bildung in vielen Fällen meilenweit voneinander entfernt liegen.
Wachsende Kompetenzanforderungen – angepasste Ausbildung?
Doch halten die Erzieher-Ausbildungen inhaltlich mit den wachsenden Qualitätsansprüchen Schritt? Durchaus fraglich, denn die heutigen Alltagsanforderungen an Elementarpädagogen sind mit der teils kleinstaatlichen Fachschulausbildung, der großen Heterogenität und dem meist niedrigen Einstiegsalter der Studierenden, ungenügender Lebenserfahrung sowie praxisfernen Themen nicht mehr zu bewältigen. Daher fordern Experten bereits seit mehreren Jahren, die personellen Rahmenbedingungen durch eine akademisierte Erzieherausbildung deutlich zu verbessern und damit ein praxisrelevanteres und breiteres Wissen von der Frühpädagogik bis zur Sonderpädagogik zu erlangen.
In den vielschichtigen Arbeitsfeldern von Erziehern innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe wie Kinderkrippen, Kindertagesstätten, Horten, Heimen, Behinderteneinrichtungen oder in der Jugendarbeit fehlen teilweise detaillierte Kenntnisse zur pädagogischen Umsetzung des Bildungsauftrags, der qualifizierten Arbeit mit behinderten oder verhaltensauffälligen Kindern sowie familienunterstützenden Leistungen, aber auch zur Methodik in der altersübergreifenden Betreuung. Mehr zu diesem Thema finden Sie auch unter Fernstudium Sozialpädagogik.
Das Berufsfeld „Erzieher“ aus anderer Sicht
Lassen wir die (meist hemmenden) Rahmenbedingungen unberücksichtigt, sehen sich dennoch eine Vielzahl von Erziehern in ihrer Berufswahl bestätigt. Das mit Kindern gemeinsame Miteinander beim Spielen, Bewegen, kreativen Ausprobieren, beim Entdecken der Welt mit allen Sinnen, miteinander reden und sich zu streiten oder den Alltag zusammen zu gestalten, macht Erzieher zu wertvollen Entwicklungsbegleitern und Bündnispartnern für das Kindeswohl. Aktionen wie Feste oder Ausflüge festigen das gemeinsame Zusammenleben und erleichtern die interne Kommunikation.
In (meist) kollegialem und intensivem Dialog mit allen am Bildungs- und Erziehungsprozess Beteiligten (z. B. Träger, Eltern) meistern Erzieher gemeinsam die täglichen Herausforderungen ihres beruflichen Alltags, lösen Konflikte und reflektieren kritisch ihre eigene Arbeit, Entwicklungsverläufe der Kinder oder getroffene Entscheidungen, mischen sich aber auch in konzeptionelle Aufgaben ein und setzen sich mit wissenschaftlichen Ergebnissen aktiv auseinander.
Sieht so ein beruflicher Albtraum aus? Nein, aber …
Perspektiven im Erzieherberuf
Ketzerisch könnten wir behaupten: Erzieher ist ein Traumberuf, solange sich keiner einmischt. Aber die Realität holt uns an dieser Stelle (leider) schnell ein.
Solange die Erzieher-Ausbildung neben dem zweifelsohne notwendigen theoretischen Grundlagenwissen keine überzeugenden Antworten auf die brennenden Alltagsfragen etwa in Kindergärten vermittelt, Träger nur auf die gesellschaftlichen Vorgaben reagieren, aber nicht offensiv und fachlich fundiert agieren können, der Erzieherberuf keine größere öffentliche Wertschätzung genießt und die Rahmenbedingungen vor Ort nicht verbessert werden können, ist es Utopie, jedem Kind auch nur annähernd gerecht werden zu können.
Nichtsdestotrotz können sich Erzieher mit Selbstmotivation, grenzenlosem Optimismus, klaren Zielen und Entscheidungen, Gefühl für die Situation sowie einer kritischen und gleichzeitig professionellen Haltung zu (neuen) Konzepten, Programmen und unberechtigten Erwartungen persönliche Freiräume im Berufsalltag schaffen und zur (teilweisen) Erfüllung des Erziehungs-, Bildungs-und Betreuungsauftrages von Kindertageseinrichtungen führen.
Traum oder Albtraum? Aktuell von jedem etwas …
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